Wie Flori einzog
Flori sagt, in all den Jahren habe ich überhaupt nie so richtig die Geschichte erzählt, wie er hier eingezogen ist. Das muss natürlich mal nachgeholt werden (inkl. Kinderfotos in sehr schlechter Qualität)!
2009 ist kein gutes Jahr. Meine Vermieterin ist gestorben, die Erbengemeinschaft ist heillos zerstritten, an der Schlafzimmerwand hat sich Schimmel gebildet und niemand fühlt sich zuständig. Im Mai steht der Umzug in die neue Wohnung an, aber der steht unter keinem guten Stern: Zwei Wochen vorher stirbt Susi, meine siebzehnjährige Gnadenbrotkatze. Und kurz nach dem Umzug bricht Grobi, mein freundlicher, stiller alter schwarzer Kater, morgens plötzlich in der Küche zusammen. In der Tierklinik wird Nierenversagen diagnostiziert – auch den armen alten Tropf verliere ich.
Zwei Vergesellschaftungen schlagen fehl, und ich bin am Boden zerstört. Lilly braucht einen Artgenossen, und ich scheine mein Gespür für das passende Haushaltsmitglied komplett eingebüßt zu haben. Vielleicht sollte ich erstmal eine Weile warten und mich sammeln. An einem warmen Junisamstag fahre ich ins Gartencenter und schaue auf dem Rückweg dann doch noch im Tierheim vorbei. Daniela, die Tierpflegerin, freut sich und hat auch schon eine neue Idee: „Wie wär’s denn mit dem Schwarzweißen? Wir waren jetzt mit dem beim Tierarzt, der hat nix feststellen können.“
Ich bin nicht so überzeugt von der Idee. Der Schwarzweiße ist mir seit seiner Ankunft im Tierheim bekannt, und er ist mir nicht geheuer. Er scheint in seiner eigenen Welt zu leben, nimmt wenig Notiz von den anderen Katzen, geschweige denn von mir, wenn ich ihn mal streichele, und meistens schläft er sowieso. Eine ganze Weile saß er in der Quarantänebox, eben weil er so teilnahmslos und müde wirkte. Nach der Entwarnung des Tierarztes darf er mit den anderen herum laufen. Aber er kommt nicht gut mit ihnen klar.
„Guck doch mal.“ sagt Daniela, die sehr praktisch veranlagt ist, und deutet ins Außengehege, wo der Schwarzweiße wieder mal lang ausgestreckt auf der Seite liegt und sich nicht rührt. „Der macht überhaupt gar nix, mit dem hat Lilly bestimmt keine Probleme.“ „Bist du sicher, dass er überhaupt noch lebt?“ frage ich, ein wenig indigniert angesichts von soviel Pragmatismus. „Ich meine, wie er da liegt …“ „Doch, der lebt noch. Anfangs sind wir regelmäßig rein gerannt und haben ihn angestupst, weil wir dachten, er wär tot. Aber der pennt nur.“
Wenn Daniela erstmal ein Vermittlungsopfer ins Visier genommen hat, dann ist sie schwer zu bremsen. Sie holt einen Kennel, erklärt mir, „den nimmst du jetzt mit“, und ich trotte brav hinter ihr her ins Außengehege. Die anderen Katzen rennen weg oder kommen angerannt, je nach Temperament, nur der Schwarzweiße liegt da wie vom Blitz gefällt und bewegt sich nicht. Daniela rüttelt ihn wach, setzt sich hin, nimmt ihn auf den Schoß und erzählt ihm, dass er nun mitgenommen werde. Der Schwarzweiße schnurrt verwirrt und blinzelt müde in die Sonne.
„Du bist schon ein komischer kleiner Kerl.“ findet Daniela und begutachtet die zerschrammte kleine Nase. „Der hat schon wieder Prügel gekriegt. Irgendwie rafft der das nicht, wenn die anderen ihn anfauchen … hmmm … ob der überhaupt hören kann?“
Sie nimmt ihren Schlüsselbund aus der Hosentasche und lässt ihn über den zerzausten schwarzen Ohren heftig scheppern. Die Ohren zucken nicht einmal. „Tatsächlich, guck mal!“ ruft Daniela aus, begeistert von ihren Diagnosefähigkeiten. „Der ist stocktaub!“ „Echt jetzt? Oh nein.“ sage ich und überlege, ob ich mir ein behindertes Tier überhaupt zutraue. Bevor ich zu Ende überlegt habe, ist das behinderte Tier allerdings schon in den Kennel gestopft und mir in die Hand gedrückt worden. Ein bisschen verstört stolpere ich vor Daniela her aus dem Gehege, vorbei an der Tierheimleiterin und der Hundepflegerin, denen sie zuruft, dass der Schwarzweiße taub sei und dass Bianka den jetzt aber mitnehme, während sie mich in Richtung Tor schiebt. Gerührte Dankesworte begleiten mich vom Hof. Na toll.
Das kleine taube Tier guckt mich im Auto nur einmal mit großen Augen an und sagt fragend: „Mau?“, bevor es sich im Kennel zusammenrollt und wieder einschläft. Es schläft immer noch, als ich es in die Wohnung trage und das Gitter aufmache. Lilly guckt rein und faucht. Das Täubchen schläft. Lilly schaltet einen Gang rauf und beginnt wild zu knurren. Das Täubchen schläft. Ich rüttele es sanft und sage, es soll mal aufwachen und gucken, wer da ist.
Der Schwarzweiße macht die Augen auf, steht auf, verlässt den Kennel und schlurft einmal durch die Wohnung. Lilly klebt keifend und spuckend an seinen Fersen. Fassungslos sieht sie zu, wie der Kleine das Sofa ansteuert, schwerfällig hochklettert, auf die Seite kippt und weiter pennt. Eine Weile steht sie noch schimpfend und schwanzwedelnd vor der Couch, dann verzieht sie sich ins Schlafzimmer und versucht, ihr ramponiertes Selbstbewusstsein irgendwie mental wieder ins Lot zu bringen.
Zum Abendessen versuche ich den kleinen Kerl zu wecken. Ich stupse ihn an, zause seine Ohren, hebe seine Füße hoch und lasse sie wieder in die Kissen fallen. Er schläft einfach weiter. Schließlich nehme ich ihn auf den Arm und trage ihn in die Küche. Langsam wird er wach. Ich setze ihn ein Stück entfernt von der meckernden Lilly vor seinen Teller, den er teilnahmslos beschnüffelt, um dann ein paar Häppchen lustlos zu kauen. Er versucht, auf die Spüle zu springen, schafft es aber erst im dritten Anlauf. Wenn er herum läuft, zittern seine Beinchen. Ob ich nächste Woche doch noch mal mit ihm zum Tierarzt fahre?
Nachts werde ich wach, als ganz leise ein kleiner Körper auf dem Bett landet und vier dicke Pfoten suchend durch die Kissen tapern. Dann schmiegt sich ein weiches Bäuchlein an mich, und eine warme schnaufende Nase drückt sich an meinen Hals. Ich nehme das trostsuchende kleine Wesen in den Arm und frage mich, ob aus ihm jemals ein ganz normaler Kater werden wird. Das Kerlchen ist so teilnahmslos, so in sich gekehrt, so zitterig, als könne es gar nicht recht etwas anfangen mit der Welt.
Am nächsten Morgen werde ich von einem ungewohnten Geräusch geweckt. Als ich die Augen öffne, sehe ich im Dämmerlicht einen schwarzen Popo aus dem Topf meines großen Ficus ragen. Der Rest des Tieres ist bereits in einem ziemlich tiefen Loch verschwunden, und die Vorderpfoten buddeln eifrig noch mehr Erde heraus, die sich in Windeseile auf dem Schlafzimmerteppich verteilt. Lilly sitzt daneben und guckt interessiert zu. Ab und zu streckt sie zierlich ein Pfötchen aus, um schöne Muster in die heraus gebuddelte Blumenerde zu zeichnen. Ich drehe mich erleichtert um und schlafe weiter. Vielleicht warte ich noch mit dem Tierarzt.
Als ich ein paar Tage später auf dem Gelände der Gärtnerei, über der ich jetzt wohne, zur Mülltonne gehe, um die zerbrochenen und zerfetzten Überbleibsel der letzten Spiel- und Tobestunden meines Katerchens zu versenken, fällt mein Blick auf das Namenszettelchen an einer Pflanzenpalette. Floribunda, lese ich. Und ich denke: Das ist doch mal ein schöner Name für einen kleinen Kater, der von Tag zu Tag wacher, fröhlicher und frecher wird. Floribundus. Flori und Lilly.
Und in Zukunft, nehme ich mir ganz fest vor, mache ich einen großen Bogen um Daniela und das Tierheim. Die nutzen mein zurückhaltendes Wesen ja doch nur immer schamlos aus!
Hallo ...?
Hausbesitz macht selbstbewusst
... und eine sehr engagierte Ersatzmama hat sich dann auch schnell gefunden.