Das Wurmloch-Weihnachts-Special
Zum Jahresende durchbrechen wir noch mal den Vierzehntagerhythmus. Bevor wir uns nächsten Sonntag auf unbestimmte Zeit in den Ruhestand verabschieden, gibt es heute ein leicht psychedelisches Weihnachts-Special!
Dass Heiligabend ist, merkt Flori immer daran, dass es nach Kartoffelsalat riecht und das Personal nachmittags schon auf der Couch liegt und sich DVDs mit Zombies und Werwölfen anguckt. Irgendwann geht es dann mit einer Kiste voll Geschenken und dem Kartoffelsalat weg und kommt mit einer Kiste neuer Geschenke und weniger Kartoffelsalat zurück, brabbelt was von „Weihnachtsstress“ und schlurft ins Bett.
Jetzt schnarcht es, und Flori ist mal wieder heilfroh, dass er taub ist und bei dem Lärm trotzdem schlafen kann. Jedenfalls bis eine heisere Stimmung „Flori, hallo Flori, aufwachen!“ krächzt und ein Glöckchen bimmelt. Mann bist du doof, denkt Flori, ich bin doch taub, und schläft einfach weiter. „Ey Mann, du sollst aufwachen!“ krächzt die Stimme, und das Glöckchen kracht mit einen kläglichen Scheppern auf Floris Nase nieder.
Jetzt ist Flori wach. Vor ihm auf dem Sofakissen steht ein winziges Schwein. Es trägt ein Batman-Kostüm und hat einen Propeller auf dem Kopf. Ich hätte die Katzenminze nicht fressen sollen, denkt Flori und will sich wieder zusammenrollen. Aber das Schwein schreit, Flori solle jetzt gefälligst mal wachbleiben, es habe eine Einladung zur Weihnachtsparty für ihn, und drischt weiter mit dem Glöckchen auf ihn ein. „Ja ja, ist ja schon gut.“ sagt Flori genervt und setzt sich hin. „Sag mal, was bist du denn für einer? Sowas hab ich ja noch nie gesehen.“ „Na was wohl.“ sagt das Schwein beleidigt. „Ich bin ‘ne Weihnachtselfe!“ „Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ meint Flori. „Weihnachtselfe! Im Batman-Kostüm!“
Das Schwein guckt verlegen an sich runter und murmelt: „Ich war halt ein bisschen spät dran im Kostümverleih, Elfenkostüme waren schon aus. – Aber egal, ich hab jedenfalls eine Einladung für dich. Zur Weihnachtsparty. Lilly erwartet dich.“ „Sag das doch gleich, anstatt hier rumzubimmeln. Gibt’s da was zu essen?“ „Weiß ich doch nicht. Ich bring nur die Einladung! Also, was ist jetzt?“
Flori erhebt sich gähnend und folgt der Weihnachtselfe, die den Propeller angeworfen hat und schwerfällig vor ihm her trudelt. Gemächlich geht es durch das Wurmloch, vorbei an Lippenpflegestiften, ausgeputzten Futterdosen und LED-Teelichtern bis zu einer rostigen Metalltür, an der ein Schild mit der Aufschrift „Heizungskeller – Betreten für Unbefugte verboten“ prangt. Die Weihnachtselfe bimmelt dreimal mit dem Glöckchen, und die Tür springt auf. Dahinter ist ein weiß-rosa gestreifter Schlagbaum und ein Pförtnerhäuschen, in dem gerade ein uniformierter Mops ein Leberwurstbrot verspeist. Flori kriegt gleich Hunger. Die Weihnachtselfe schwirrt zum Pförtnerhäuschen und legt die Einladung vor, und der Mops winkt Flori mit seinem Leberwurstbrot durch die Schranke.
„Allmählich krieg ich Hunger.“ mault Flori. „Ist es denn noch weit?“ „Meine Güte, immer diese Ungeduld!“ kreischt die Weihnachtselfe. „Ich hab an Heiligabend auch was Besseres zu tun, als fette Kater durch Wurmlöcher zu lotsen, und nörgel ich vielleicht rum? – So, wir sind da. Fröhliche Weihnachten, Speckbacke!“
Mit diesen Worten zieht die Weihnachtselfe einen bunten Perlenvorhang zur Seite und schubst Flori hindurch. Hinter dem Perlenvorhang ist eine große, wilde Wiese mit hohem Gras, bunten Blumen und alten Bäumen. Ein schwarzer, lockiger Hund sitzt im Gras und steht auf, als Flori sich nähert. „Hallo Flori.“ sagt er freundlich. „Komm, ich bringe dich zu Lilly. Sie erwartet dich bereits.“ „Gibt’s bei euch auch was zu essen?“ will Flori wissen. „Natürlich.“ sagt der schwarze Hund. „Wir haben extra für dich ein Brathuhn bei liefer-an-du.de bestellt.“ „Cool!“ sagt Flori und freut sich. Ein ganzes Brathuhn! Scheint ja gar nicht so schlecht zu sein hier.
Er geht mit dem schwarzen Hund durchs Gras. Die Sonne scheint warm auf sein Fell, und die Blumen riechen nach Tunfisch. Echt super hier, denkt Flori. Ein Stück weiter vorne tummeln sich Hunde, Schildkröten, Wellensittiche, Hamster, Zwerggarnelen, ein kleines und ein größeres Pferd und ziemliche viele Katzen. Eine davon kennt Flori. Sie liegt in einem Sonnenstuhl und schlürft einen Eierlikör-Cocktail aus einem Glas mit Strohhalm und buntem Schirmchen.
„Lilly!“ ruft Flori und vergisst für einen Moment sogar das Brathuhn. Lilly hebt kurz ihre Sonnenbrille an, schaut ihm strafend entgegen und sagt: „Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.“ „Die Weihnachtselfe hat getrödelt.“ schiebt Flori die Schuld auf die Weihnachtselfe und kommt gleich zum Wesentlichen: „Der schwarze Hund hat gesagt, es gibt Brathuhn?“ „Später.“ antwortet Lilly streng und weist auf den etwas ramponierten Campingklappstuhl neben ihr. „Setz dich erstmal. – So, und nun erzähl mal. Wie läuft es denn bei euch?“
Flori seufzt, aber er fügt sich in sein hungriges Schicksal. Lilly scheint sich überhaupt nicht verändert zu haben. Chefkatze bleibt eben Chefkatze, auch wenn sie im Liegestuhl fläzt und Schirmchendrinks schlürft. „Ach, ganz gut. Na ja, das Personal wird eben auch nicht jünger. Manchmal muss ich ganz schön lange quengeln und Sachen vom Schreibtisch schmeißen, bis die mal aufsteht und uns füttert. Aber nächstes Jahr gehen wir in den Ruhestand. Dann hat sie mehr Zeit, sich um uns zu kümmern.“ „In den Ruhestand?“ fragt Lilly nach. „Ja, also mit den Geschichten. Nächstes Jahr gibt es nur noch ganz ab und zu mal eine Geschichte. Wir müssen dann nicht mehr alle zwei Wochen lustig sein, damit es eine Geschichte gibt.“
Indigniert stellt Lilly ihren Drink beiseite. „Ich wundere mich sowieso, dass die Geschichten noch so lange weiter gegangen sind. Was kann es denn noch zu erzählen gegeben haben, nachdem ich nicht mehr dabei bin?“ „Aber der Fritz und ich sind doch noch da.“ gibt Flori etwas beleidigt zu bedenken. „Und dann ist ja noch der Henry gekommen.“ „Ach, papperlapapp.“ winkt Lilly ab. „Es gibt immer nur eine Diva, die einer Geschichte Glanz verleiht.“ „Die ganzen Geschichtenleser sind aber ganz traurig, weil die Geschichten jetzt aufhören sollen!“ ruft Flori empört. „Tzzz.“ macht Lilly. „Das sind wahrscheinlich auch die, die sich die Verfilmung der Geschichte von der Urgroßtante der Nachbarin des Briefträgers von Luke Skywalker angucken würden. Die Menschen sind einfach bekloppt, da kannst du sagen was du willst. Guck dir die Hektiker doch an, ständig stressen sie rum, da wollen sie als Ausgleich wenigstens konstante Geschichten haben. Auch wenn sie von Fortsetzung zu Fortsetzung langweiliger werden. Bei welcher Supernatural-Staffel ist das Personal jetzt?“ „Ähm … bei Staffel zehn, glaub ich.“ „Und wieviele Fortsetzungen von Casablanca hat es gegeben?“
Was ist Casablanca, will Flori fragen, aber da kommt ein Kaninchen mit liefer-an-du-Käppi angehoppelt und bringt das Brathuhn. „Das würde doch ausgehen wie Folge 1867 aus der Lindenstraße.“ fährt Lilly fort. „Ilsas Fehltritt würde immer zwischen ihr und Victor stehen, sie würden sich im Exil immer mehr entfremden, er würde sich radikalisieren und es käme zu häuslicher Gewalt, und irgendwann würde sie zu Rick zurückkehren, der dann an Alzheimer erkrankt, während Louis sein Coming Out hätte und auf Ilsa eifersüchtig wäre, und in einem anderen Erzählstrang nähme Sam an einer Casting-Show teil und vertraute sein Klavier solange Yvonne an, die es jedoch heimlich an Major Strasser verhökerte, weil sie vom radikalisierten Victor für irgendeinen Untergrundkampf angeheuert wurde. Und so weiter, und so weiter.“
Flori mampft sein Brathuhn und hört nur mit einem halben tauben Ohr zu. Lilly hat sich in Rage geredet. „Nein!“ ruft sie aus und hebt ihr Glas. „Eine wirklich gute Geschichte hat auch ein Ende! Und Ende ist nun mal, wenn die Diva ins Flugzeug steigt!“ „Krieg ich auch so’n Drink?“ fragt Flori, putzt sich die Schnurrhaare und rülpst. „Was iss’n das überhaupt?“ „Eierlikörcocktail.“ antwortet Lilly niedergeschlagen und seufzt heimlich. Das dicke Kind hat sich ja überhaupt nicht verändert. Flori winkt einer vorbei schwirrenden Hummel, die ein Kellnerinnen-Schürzchen trägt, und ruft: „Einen Eierlikörcocktail, bitte!“ „Einen Brennnesseltee für den jungen Herrn.“ korrigiert Lilly die Bestellung und fügt hinzu: „Und für mich einen Champagnercocktail.“
Komisch, denkt Flori, als er kurz darauf auf seinem Sofakissen aufwacht. Mir ist ganz duselig im Kopf, obwohl ich doch nur den doofen Brennnesseltee trinken durfte. Und Hunger hab ich auch schon wieder.
Und er trottet ins Schlafzimmer, um das Personal zu wecken und ihm zu sagen, dass er Hunger hat. So wie jeden Morgen …
Boooaaaahhh ey ... nicht noch 'ne Weihnachtselfe!