Diesen Mist mit dem Älterwerden, das nehme ich der Natur echt übel. Irgendwie ist mein Leben mit zunehmendem Alter auch zunehmend freudlos geworden. Wie war es doch vor vierzig Jahren noch aufregend, wenn ich bei Familienfeiern mit am Tisch sitzen und mit großen Ohren den aufregenden Gesprächen lauschen durfte, die die Erwachsenen führten! Wenn ich heute hingegen zu den diversen Feierlichkeiten bei meinen Eltern eingeladen bin, dann frage ich immer, ob ich spülen darf. Denn den Gesprächen bei Tisch mag ich am liebsten gar nicht mehr lauschen, und mit großen Ohren schon erst recht nicht. Die Gespräche bei Tisch drehen sich meist ganz unbefangen bei Käsekuchen und Sahnetorte um Hüftoperationen, Verdauungsbeschwerden und, ganz schlimm, um Krampfadern. Immer waren alle grade beim kostenlosen Venenmessen in der Apotheke und rufen dann zwischen zwei Gabeln Schwarzwälder Kirsch, dass sie nächste Woche mal beim Doktor müssen, der soll die Krampfadern ziehen.
Da schaudert’s mich. Ich glaube, die Angst vor der Krampfader war unterschwellig der Hauptgrund für meinen Wunsch, mit Mitte Vierzig nochmal umzuschulen. Verkäuferinnen stehen viel, und vom Stehen kriegt man Krampfadern, dachte ich und untersuchte abends immer angstvoll meine bleichen Stelzen auf verräterische Linien. Und wenn im Werbefernsehen die Besenreiser-Salben-Werbung lief und die Besenreiser-Werbefrau mit weit aufgerissenen Augen „Besenreiser!!!“ in die Kamera kreischte, dann überlief’s mich kalt. Ich habe mir sogar eine Rosskastanien-Salbe gekauft, um meine Beinbeaderung von unheilvollen Entwicklungen abzuhalten. Und dann habe ich mir gedacht, ein Bürojob wär doch schöner. Da steht man nicht, dann kriegt man keine Besenreiser. Und schon gar keine Krampfadern.
Jedoch hat auch der Bürojob seine Tücken. Seit ich meine Beine hauptsächlich für den Weg zwischen Autositz und Bürostuhl in eine senkrechte Position bringe, habe ich an Leibesumfang doch ein wenig zugenommen, die Hosen kneifen, und wenn ich abends die Treppe zu meiner Wohnung hochgestiegen bin, dann komme ich mit erhöhter Pulsfrequenz oben an.
Zum Glück habe ich Katzen. Hundehalter behaupten ja immer, der Vorteil des erwählten Haustieres sei vor allem auch gesundheitlicher Natur, weil der Hund einen in Bewegung halte. Ich sage, die haben überhaupt keine Ahnung. Eine Runde Gassigehen, das ist nichts, aber rein gar nichts gegen einen Gewitterabend mit fünf Katzen.
Nebst meiner eigenen kleinen Schar war ich nämlich unlängst auch zwei Wochen lang für die Versorgung der benachbarten Prinzessinnen verantwortlich, deren Personal in den Urlaub gefahren war. Während ich daheim auf dem Sofa ruhte und meine Beine vorsichtshalber auf dem Venenkissen gelagert hatte, wurde in der fernen Toscana die Nachbarin von ihrer Unwetter-App aufgeschreckt und appte ihrerseits beunruhigt, bei uns sei ein Gewitter im Anzug. Ob ich mal eben rüber gehen und im Arbeitszimmer den Computerstecker ziehen könne?
Ich wälzte Fritz von meinen Besenreisern und meinen umfangreichen Leib vom Sofa und schlurfte über den Flur. Die Prinzessinnen freuten sich sehr, mich zu so später Stunde noch zu erblicken, und schlüpften durch die Tür. Ich maulte ihnen hinterher, dass sie sofort zurückkommen sollten. Die Prinzessinnen baten mich, den Begriff „sofort“ genauer zu definieren, und verschwanden in Richtung Keller.
Eins nach dem anderen, sagte ich mir und kroch zunächst einmal im Arbeitszimmer der Nachbarn unter den Schreibtisch. Dann machte ich ein Handyfoto des medusenähnlichen Kabelgewirrs und appte in die Toskana, welchen Stecker ich denn nun ziehen solle. Ziehbrunnens raus, appte es autokorrigiert aus der Toskana. Ich rätselte eine Weile und zog dann einfach alle Stecker raus. Dann holte ich eine Leckerchendose, stellte mich in den Flur, rappelte und schrie, die Prinzessinnen sollten jetzt auf der Stelle wieder herauf kommen. Die Prinzessinnen antworteten, ich solle doch runter kommen. Hinter meiner Wohnungstür schrie Fritz, ob da etwa gerade eine Leckerchendose gerappelt habe.
Wutschnaubend machte ich mich an den Abstieg. Im Waschkeller herrschte Partystimmung, man hatte sich die Frisuren mit Spinnweben gepimpt und haschte nach Schnaken. Schluss mit lustig, sprach ich streng, es ist Schlafenszeit, wir gehen jetzt alle nach oben.
Wir gingen dann auch alle nach oben. Oben allerdings drehte Tapsy sich um und ging wieder nach unten. Ich schob Chili schon mal durch die Tür und trabte die Treppe wieder runter. Als ich Tapsy vor mir her nach oben scheuchte, kam mir Chili auf dem Weg nach unten entgegen. Ich versuchte es nochmal mit der Futterdose. Chili schrie, ich solle die Leckerchen doch in den Keller bringen. Tapsy huschte an mir vorbei und folgte der Stimme ihrer Schwester.
Nachdem ich ein gutes Dutzend mal die Treppen hinauf- und hinunter gejoggt war, gelang es mir endlich, die Prinzessinnen wieder zu kasernieren. Meine Beinmuskulatur brannte wie nach vier Kilometer Radfahren bergauf mit Gegenwind, der Puls war auf Hochtouren, und ich war nass geschwitzt. Das kann doch auch nicht gesund sein, dachte ich noch, als ich meine Wohnungstür aufschloss und meine Kater heraus schossen wie Champagnerkorken auf dem Formel-1-Siegertreppchen. Ich wollte gerade schreien, dass keiner jetzt noch in den verdammten Keller geht. Aber da rief Fritz schon von unten, dass da alles voller Schnaken sei und die anderen schnell kommen sollten.
Aus dramaturgischen Gründen spare ich mir die Wiederholung der vorangegangenen Szenen mit neuem Ensemble. Den weiteren Verlauf meines sportlichen Abendprogramms kann sich jeder ohne weiteres vorstellen.
Das Gewitter, übrigens, das ist an uns vorbei gezogen.
Keine Zeit jetzt, muss Schnaken fangen