Die deutsche Hauskatze ist das überfütterte Opfer einer überfürsorglichen und allzu nachgiebigen Wohlstandskultur, so lautet ein nicht totzukriegendes Klischee, das vermutlich von garstigen und puritanischen Zeitgenossen in die Welt gesetzt wurde, die sich selbst mit fadem Essen und leiblicher Ertüchtigung selbst kasteien und anderen den Genuss am Leben daher nicht vergönnen können. Das ist nicht nur schändlich, es ist auch vollkommen falsch!
Es ist sechs Uhr morgens an einem Samstag. Kater Flori hat Hunger. Normalerweise steht sein Personal um halb sechs auf und füttert ihn, aber heute muss es nicht zur Schule und liegt faul in den Federn. Flori muss, um nicht den Hungertod zu sterben, unter die Bettdecke kriechen und versuchen, ein wenig Fleisch von den Zehen des Personals zu nagen. Schwerstarbeit für die bereits geschwächte Kiefermuskulatur, denn die Zehen sind von einer widerspenstigen Hornhaut umhüllt, aber immerhin geht nun das Licht an, und die Zehen mit dem Personal hinten dran verlassen endlich das Bett und watscheln in die Küche, um die Futternäpfe zu füllen.
Sechs Uhr dreißig. Kater Flori hat Hunger. Das Personal steht im Bad rum und schrubbt seine Zähne. So ein Blödsinn. Flori schrubbt nie seine Zähne, totale Zeitverschwendung. Die Zehen stecken in Pantoffeln und lassen sich nicht abnagen. Als die Pantoffeln in die Küche zurückkehren, ist Flori schon wieder stark geschwächt. Das Personal hantiert ein bisschen mit der Kaffeemaschine herum und holt dann endlich die Frischkäsebecher aus dem Kühlschrank. Flori entscheidet sich für Frischkäse mit Kräutern und macht schon mal den Deckel auf. Das Personal wedelt mit den Armen und nimmt Flori den Becher weg. Hilflos muss Flori mit ansehen, wie der Frischkäse auf Knäckebrot geschmiert wird. Flori mag nicht gern Knäckebrot. Wann gibt es endlich Leckerlis?
Sechs Uhr fünfundvierzig. Der Kaffee ist fertig, die Knäckebrote sind geschmiert, und endlich wird die Leckerlidose aus dem Schrank geholt. Flori bekommt ganze fünf Leckerlis, für die er strapaziöse anderthalb Runden um den Küchentisch hoppeln muss. Das verbraucht mehr Energie, als durch die Leckerlis herein kommt, und grenzt an Tierquälerei.
Sechs Uhr fünfundfünfzig. Erschöpft liegt Kater Flori vor dem Backofen. Das Personal setzt sich an den Tisch und öffnet eine kleine Flasche mit probiotischem Joghurtdrink. Kater Fritz steht auf dem Tisch und versucht, auch was aus der Flasche zu kriegen. Das Personal schreit, Fritz solle von der Zeitung gehen. Fritz geht auch, als das Personal etwas Trinkjoghurt auf seinen Teller gießt. Kater Flori liegt vor dem Backofen und schreit so lange, bis er auch einen Teller mit etwas Trinkjoghurt kriegt. Katze Lilly schreit von ihrem Kissen im Wohnzimmer so lange, bis sie auch einen Teller mit etwas Trinkjoghurt kriegt.
Halb acht. Kater Flori hat Hunger. Das Personal ist im Bad und hat die Tür zu gemacht. Drinnen plätschert Wasser. Gemeinschaftlich kratzen Lilly, Fritz und Flori an der Tür, bis diese wieder auf geht. Man rennt in die Küche und schaut in die Näpfe, doch die sind leer. Das Personal geht auf den Balkon und beginnt, Blumen auszugraben und in Plastiktüten zu stecken. Die Katzen gehen auch raus. Draußen ist es kalt. Die Katzen gehen wieder rein und schreien hinter der Scheibe, dass sie Hunger haben.
Neun Uhr. Das Personal kommt wieder rein. Die Katzen schreien, dass sie Hunger haben. Das Personal erklärt, dass es nun wegfahre, um die Blumen zu einer Freundin mit Garten zu bringen. Die Blumen können nicht auf dem Balkon bleiben wegen der anstehenden Sanierung. Die Blumen interessieren die Katzen einen feuchten Kehricht, und sie schreien, dass sie Hunger haben. Bevor das Personal mit den Blumen wegfährt, spendiert es noch eine Runde Leckerlis, um den Abschiedsschmerz zu lindern.
Vierzehn Uhr dreißig. Das Personal war nach der Pflanzenadoptionsaktion noch in einem Trödelladen und hat jetzt Hunger. Es kann aber noch nicht nach Hause fahren und was essen, denn es hat Catsitterpflichten bei den Nachbarkätzchen. Kätzchen Chili ist bereit halb verhungert und hockt während der Katzenkloreinigung auf der Schulter des Fremdpersonals, um an dessen Haaren zu nagen. Wieder einmal geht das Personal mit einer schicken Frisur nach Hause.
Fünfzehn Uhr. Kater Flori hat Hunger. Endlich kommt das Personal nach Hause, das wurde aber auch Zeit! Das Personal füllt die Näpfe, macht sich einen Tee und ein Brot und nimmt sich die selbst gebackenen Muffins, auf die es sich schon den ganzen Tag gefreut hat. Eigentlich wollte das Personal sich Hanteln kaufen, sieht aber ein, dass es die nicht braucht. Sechs Kilo Kater beim Muffinessen zu stemmen ist auch kein schlechtes Training.
Fünfzehn Uhr zehn. Kater Fritz hat ein leer gegessenes Muffinförmchen geklaut und rennt damit Richtung Couchtisch. Das Personal rennt hinterdrein, den zweiten Muffin in der Hand und Flori vom Arm schüttelnd. Katze Lilly missfällt das, vor allem, da sich das Rennen und Schütteln unmittelbar vor ihrem Ruhekissen abspielt. Lilly steht auf und stellt sich dem Personal in den Weg. Fritz nutzt seine Chance und rennt um den Couchtisch herum. Das Personal rennt hinter Fritz her. Lilly rennt hinter dem Personal her. Flori hoppelt hinterdrein. Fritz flüchtet unter den Küchensessel. Das Personal rückt den Küchensessel beiseite. Lilly rupft am Hosenbein des Personals. Das Personal schreit, Lilly soll das sein lassen. Fritz nutzt seine Chance und rennt ins Wohnzimmer. Das Personal rennt hinterher, Lilly rennt hinter dem Personal her. Flori hoppelt hinterdrein. Fritz verschanzt sich unter dem Ikea-Sessel und fängt hastig an, das Muffinförmchen aufzufressen. Das Personal kreischt und versucht, Fritz unter dem Sessel hervor zu ziehen. Lilly kreischt auch und schließt ihre zahnlosen Kiefer fest um die Ferse des Personals. Flori hat den auf dem Couchtisch zwischengeparkten Muffin entdeckt und frisst ihn auf. Das Personal hat sich aufgerappelt und weicht Schritt für Schritt vor Lilly zurück, die wie eine Sirene heult und nach dem Personalschienbein haut. Fritz nutzt seine Chance, rennt zum Couchtisch und verleibt sich weitere Teile des Muffinförmchens ein. Das Personal greift zum letzten Mittel und schreit „FUTTER!!!!!“
Schlagartig verstummt die Sirene, Fritz lässt das halb aufgefressene Muffinförmchen fallen und Flori würgt die letzten Bröckchen Zitronen-Kokos-Muffin runter. Friedlich schnurrend schart man sich um das Personal, das noch eine Runde Leckerlis schmeißt und schleunigst die Muffinförmchen einsammelt.
Zwanzig Uhr dreißig. Kater Flori hat Hunger. Das Personal sitzt am Schreibtisch, bewundert die allabendliche Pipi-Performance des wohl genährten Nachbarkaters an seinen verbliebenen Blumentöpfen und tippt seinen Bericht für ein absonderliches Katzenforum, in dem einige glauben, es gäbe dicke Katzen.
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Beachten Sie den radikalen Bruch mit der Perspektive, der an die expressionistische Verzerrung früher Filmklassiker erinnert, und die Ambivalenz von unscharfem Motiv und scharfem Hintergrund, welche den Blick weg von dem athletischen Körper im Vordergrund hin zu der Blende unter dem Backofen lenkt, die offensichtlich beim letzten Hausputz sehr stiefmütterlich behandelt wurde: Das ist ganz große Fotokunst! Helmut Newton würde vor Neid erblassen.