Ich trauere um Lilly.
Ich bin Rationalist und Skeptiker. Aber jetzt trauere ich mit Tränen, Kerzen und vernachlässigtem Haushalt um die kleine Katze mit dem Riesen-Ego. Unter dem Couchtisch liegt ihre zweitliebste Spielmaus auf einem kitschigen Herzkissen (ihre Lieblingsspielmaus hält sie in den Pfoten), und abends flackert so ein peinliches, aber für Katzenhaushalte äußerst praktisches LED-Teelicht in einem Kerzenglas. Und ich stelle mir vor, wie sie mit ihren alten Freunden auf einer sonnigen Blumenwiese umher tollt. Jawohl. Wenn einem die blöde Evolution schon ein Bewusstsein mitgegeben hat, das komplex genug ist, einen mit Konjunktiven und Gewissensbissen zu quälen, dann darf man sich ja wohl zum Ausgleich ein idyllisches Regenbogenland ausdenken. Auch wenn man sonst immerzu herum trompetet, dass man an nichts glaubt, was wissenschaftlich nicht nachweisbar ist. Wenn kleine Katzen große Lücken reißen, dann braucht man einen Trost.
Morgens geht der erste Blick noch immer zum Schaukelstuhl, unter dem sie jeden Morgen darauf wartete, dass die faule Trulla endlich aufsteht und das Frühstück serviert. Ich wandere mit der Leckerlidose zum Couchtisch, um ihr ihren Anteil zu Füßen zu legen. Und meinen Stuhl ziehe ich immer noch sehr vorsichtig zurück, wenn ich mich an den Frühstückstisch setzen will. Um den Küchentisch stehen vier Stühle. Aber wenn ich mich auf meinen setzen wollte, lag Lilly regelmäßig dort und regte sich entsetzlich über die Störung auf.
Sie war fünfzehn, lag die meiste Zeit auf ihrem Kissen und schlief, und trotzdem ist es still geworden. Niemand singt nachts Arien. Niemand motzt mich an, weil doch in zweieinhalb Stunden schon wieder Essenszeit ist und ich mit einem Buch im Sessel herum lungere. Niemand kommt aufgeregt schnatternd angerannt, wenn ich Fritz auf den Fuß trete. Und ich kann ohne Pantoffeln am Tisch sitzen und Bratkartoffeln essen. Niemand haut mir auf die Socken, weil er seinen Anteil will.
Ich vermisse sie.
Fritz und Flori hingegen scheinen gar nicht zu merken, dass jemand fehlt. Sie spielen, toben und quäken nach Futter, als sei gar nichts passiert. Sie sind ein wenig simpel, denke ich, sie können nicht bis drei zählen. Es sind halt Männchen.
Ein bisschen könnten sie aber schon trauern, denke ich. Sie müssen sich ja nicht gleich unter dem Couchtisch zu Tode grämen wie Effis Rollo. Aber wenigstens mal versonnen gucken, so als würden sie überlegen, was jetzt anders ist als sonst. Das wär doch nicht zuviel verlangt. Stattdessen hängen sie ständig zusammen, raufen und toben mehr als sonst und sind selbst für ihre Verhältnisse auffallend renitent mir gegenüber. Vor allem, wenn ich was zu essen habe. Fritz versucht nicht mal mehr, einen unbeobachteten Moment abzuwarten, bevor er mir was vom Teller klaut. Er kommt einfach anmarschiert und grabscht sich was, was er dann knurrend in Sicherheit bringt. Es ist die reine Anarchie. Also, noch mehr Anarchie als sonst.
Auch die Schlafplatzordnung hat sich geändert. Während Fritz und Lilly ihre angestammten Plätze hatten, ist Flori da recht flexibel. Derzeit ist der Fußhocker des Küchensessels sein Lieblingsplatz. Bis heute morgen. Da hat er das Highboard geentert und Fritzens Bettchen mit Beschlag belegt, nicht ohne dem auf dem Sofa liegenden Bettcheninhaber einen herausfordernden Blick zuzuwerfen. Fritz warf einen Blick zurück, der „Püh!“ sagte, und rollte sich auf der Decke zusammen. Ich beobachtete das Ganze und zog meine Schlüsse.
Sie können eben doch bis drei zählen. Einer fehlt. Und nun müssen die Hierarchien neu sortiert werden. Wer behält beim Raufen die Oberhand, wer klaut wem das Futter, und wer schläft auf welchem Platz. Die Spitze der Evolution mag weinen und hadern und Kerzen aufstellen: Fritz und Flori gehen mit der Situation nach Katzenart um - sie regeln die Rangfolge neu.
Und da stehe ich, so scheint es, ganz weit unten. Wenigstens das hat sich nicht geändert.
Ja, Lilly. Lach du nur in deinem Regenbogenland.