Nein, "von Geburt an" scheu gibt es nicht. Es gibt von Geburt an zurückhaltendere ängstlichere Charaktere, so wie es eben auch beim Menschen Draufgänger oder schüchterne Charaktere gibt. Aber die Scheuheit selbst entsteht erst durch die Erfahrung, die dann dazu kommt - sei es durch die Mama oder durch das Verhalten (oder auch Nicht-Verhalten) der Menschen. Wenn z.B. ein Wurf in einer Zucht separat gehalten wird, also nicht am Familienleben teilnehmen darf und der Mensch nur reingeht zur Versorgung und sich nicht groß um die Mietzen kümmert, dann werden die Neugierigen trotzdem zum Menschen hinkommen, wenn er Futter hinstellt und so es positiv verknüpfen und nicht scheu werden, während die schüchternen sich nicht vortrauen und so keine Verknüpfung stattfindet. Dann geht's zum impfen, die Kleinen werden gegriffen und "gequält" (aus ihrer Sicht) - so findet dann für die schüchternen der erste Kontakt mit den Menschen negativ statt. Und so kann ein scheues Zuchttier entstehen, ohne, daß der Mensch sich einer Schuld bewußt ist, denn aktiv hat er dem Kleinen ja nix getan. Aber eben: er hat nix getan - er hat sich nicht (genug) um die Kleinen gekümmert - das kann bei einem ängstlichen Wesen ausreichen.
Ich kann das teilweise bestätigen, vor allem die Frage der Sozialisation und des Charakters.
Wir haben hier zwei denkbare Gegensätze: die tyrannische Siamesin Pfötchen und den mädchenhaften Siamkater Moody.
Pfötchen stammt aus einem großen Wurf (übrigens beide vom seriösen Vereinszüchter) und hatte das Trauma, als Kitten zu verunglücken und am Bein amputiert werden zu müssen.
Ihr Grundvertrauen ist beschränkt da. Sie lässt Manipulationen am Körper und am Kopf zu, die sie kennt. Sie lässt sich in bestimmten Situationen auch greifen und hochheben. Sie kommt auf den Tisch und kuschelt sich in den Arm. Aber sie wird nie auf den Schoß kommen, weil das offenbar eine Situation war, die für sie schrecklich war (vermutlich in Zusammenhang mit Medikamentengabe oder ähnlichem nach der Amputation - so meine Überlegung). Pfötchen schläft auch bei mir im Bett und kriecht unter die Decke, um möglichst den engsten aller Körperkontakte zu mir zu haben. Aber eben niemals Schoß!
Moody ist eine Handaufzucht im Familienverbund seiner verbliebenen Geschwister, der Mama und der Tanten und Halbgeschwister usw. (Moodys Mama hatte anfänglich keine Milch, und Moody wurde dadurch sehr krank.) Er kennt ein gutes Sozialverhalten und alle kätzischen Regeln, aber er sieht sich mehr als Mensch denn als Katze, muss man mal so sagen.
Genau wie Pfötchen, ist Moody sehr eifersüchtig und auf seinen Menschen bezogen. Er liebt seine Nine über alles (und vice versa), er spielt gern mit Mercy und stapelt auch mit seinen beiden Frauen, aber er jagt auch gern und tatzelt und kloppt die Mädels (wupp! eine auf den Hintern etc.). Nicht richtig raufig, aber rüpelig.
Das dann abwehrende Verhalten der Mädels interpretiert er immer wieder mal als zu heftig; vermutlich weil seine Mama und die Tanten ihn als Kitten entsprechend zurechtgewiesen haben. Seine einzige überlebende Schwester verstarb leider als Kitten, und aus dem etwas jüngeren Wurf gab es meiner Erinnerung nach nur zwei Jungs (Chili und Dr. Evil).
Moodys großes wiederkehrendes Trauma ist der Staubsauger, der im Moodyhaushalt eben nicht dreimal am Tag angeworfen wird. Die Mädels mögen ihn auch nicht, sind da aber belastbarer. Mr. Moo versteckt sich noch lange nach dem Wegstellen des Teils und guckt sich erstmal nach allen Seiten um, dass das unheimliche Monster nicht wohlmöglich iwo lauert.
Das sind zwei wirklich gut sozialisierte Katzen, aber eben beide mit ihrem jeweiligen persönlichen Angstfaktor.
Übrigens ist keine von unseren vier Pattexkatzen so dreist und unverschämt neugierig und revierbezogen wie Sternchen Nicki, seines Zeichens Lastrami, der jeden Besucher begrüßte und am liebsten in den Handwerkertaschen das Werkzeug zu zählen pflegte!
Sie kommen neugierig, wenn fremder Besuch da ist, aber erstmal von ferne und mit einer gesunden Portion Zurückhaltung, und sie gehen ggf. auch wieder, wenn ihnen etwas nicht behagt (was nicht selten vorkommt).
Der ganz wichtige - jedenfalls aus meiner Sicht! - gemeinsame Faktor bei den beiden Siamesen ist: Verlässlichkeit!
Pfötchen fühlt sich sicher bei der körperlichen Manipulation (Hochheben, Anfassen usw.), wenn die Bewegung verlässlich ist, sie sie also schon als verlässlich und sicher erlebt hat. Ich kann sie am Körper und im Gesicht überall anfassen, z. B. auch an den Augen oder die Zähne angucken. Genauso am Beinstumpf. Beim Schoß ist aber halt eine Grenze, die wir bisher nicht überschreiten konnten.
Und Moody ist zwar ein Klebekater, aber auf bestimmte Dinge wie den Staubsauger ist er bisher nicht hinreichend sozialisiert. Staubsauger ist nicht sicher, und dann geht er stiften. Worüber ich aber sehr froh bin: er ist inzwischen mehr auf seine Mädels fixiert (als Interakteurinnen) als auf mich! Er orientiert sich zwar noch viel an mir (mit seinen inzwischen zwei Jahren), aber er verlässt sich bei der Einschätzung einer neuen Situation auch immer mehr auf Nine und Mercy. *freu*
Nine und Mercy sind beides sehr integre und in sich ruhende Mädels. Sie haben beide eine so gute Resilienz, dass sie leider manchmal eher untergehen in dem Siamesentrubel (bzw. auch Mercy in Nines gesundheitlichen Malessen).
Bei beiden Siamesen sehe ich insofern eine gewisse Grundschüchternheit oder -unsicherheit, woher auch immer die kommen mag bei dem doch so unterschiedlichen Hintergrund; Pfötchen ist charakterlich obendrauf extrem ehrgeizig und willensstark und zielorientiert, Moody eher ein Träumerle und Schmusebacke mit Spaßfaktor (Mädels auf den Poppes klopfen usw.).
Bei allen vier Katzen könnte sich das in anderen Händen in unterschiedliche Richtungen entwickeln! Pfötchen und Moody hätten das Potential, total scheu zu werden bei entsprechend negativen Erfahrungen; Nine würde vielleicht eher resignieren und (wie so viele Einzelkatzen) zu ruhig werden. Mercy ist eine Quäke und macht Unsinn, wenn ihr langweilig wird. Gern auch mit Moody, die beiden sind dann die "eilige Zweifaltigkeit", wenn sie über Tische und Bänke gehen!
😉
Mercy hat in diesem Punkt sehr viel vom nicht ausgelasteten verspielten Kitten oder Welpen, wo es sich dann in Richtung Zerstörungswut auswachsen könnte.
Und doch sind sie in ihrem jeweiligen Züchterhaushalt Bestandteil der Familie gewesen, gut sozialisiert und mit den üblichen Alltagsgeräuschen vertraut gemacht worden..... und jede Katze schleppt ihr persönliches Päckchen mit sich rum und hat das Potential, in den falschen Händen eine Problemkatze zu werden..... und in den richtigen Händen dann evtl. auch wieder eine Traumkatze sein zu können!
Taskali, sry für das lange o.t. (ich habe leider ein Schwafelgen *schäm*), und dir und deinen Pflegis und eigenen Katzen und Familie ein schönes Weihnachtsfest und danke für die ausführlichen Berichte über deine Fellchen!
LG