Okay, das ist hier etwas explodiert. Mal schauen, gerne nochmal schreien falls was untergeht, aber ich versuche möglichst viele Punkte abzudecken.
Was ist das Problem mit dem Märchen der "unzähmbaren" wilden Katze?
1. Es wird empfohlen, Kitten frühzeitig von ihrer Mutter zu trennen, da die Mutter verhindern würde, dass sich die Kitten an Menschen gewöhnen.
Siehe Ursprungsthread, aber siehe auch unzählige völlig unnötige Handaufzuchten, die mit dieser Begründung durchgeführt werden - nicht selten um mit reinem Gewissen und voller Stolz (ich habe dieses Kitten GERETTET!) seiner romantischen Vorstellung einer Handaufzucht nachgehen zu können.
Das ist quasi die Steigerung der Leute, die "unbedingt einmal Kitten haben möchten" und davon gibt es absolut nicht wenige, aber es gibt natürlich auch genug Leute die tatsächlich aus vollster Überzeugung heraus handeln, dass sie Kitten damit wirklich retten.
Ich will dass diese Vorstellung VERNICHTET wird.
Der einzige Grund warum man Kitten potentiell früher von einer scheuen Mutter trennen sollte ist der, wenn die Mutterkatze so gestresst von ihrer Gefangenschaft ist, dass Gefahr für ihre eigene und/oder die Gesundheit der Jungtiere besteht. Könnte zB der Fall sein, wenn als Unterbringung nur ein kleiner Käfig möglich ist, in dem die Mutterkatze keinerlei Rückzugsmöglichkeiten hat.
In solchen Fällen sollte man aber immer auf Katzenammen zurückgreifen. Das Unterschieben von fremden Kitten ist extrem einfach und ein Mensch kann die Katzenerziehung der ersten 12 Wochen schlicht und ergreifend nicht leisten.
2. Scheuen Katzen wird von vornherein keine Chance gegeben, weil Menschen gesagt bekommen, dass die Katzen eben "wilde Katzen" sind.
Klassisches Beispiel: Person A bemerkt einen Streuner in ihrer Nachbarschaft. Sie überlässt ihn seinem Schicksal, denn die Katze möchte schließlich nichts mit Menschen zu tun haben und hat sich dieses Leben so ausgesucht bzw. wurde eben so wild geboren. Sonst würde sie ja ankommen und sich direkt streicheln lassen und nach Futter betteln.
Oder vielleicht stellt sie auch Futter hin, kümmert sich aber eben nicht weiter um die Katze - dabei würde sich besagte Person A vielleicht ganz anders um das Tier bemühen, wenn sie wüsste, dass es mit etwas Zuwendung und Geduld auch zu einer wunderbaren, verschmusten Freigänger-Katze werden könnte.
Es geht um die Einstellung der Leute, um das was man jemandem erzählt, der eine wilde Katze hat. Klar, man sollte auch nicht verheimlichen, dass es Jahre dauern kann - meinetwegen kann man auch ein "vielleicht nie" dazu fügen. Aber man sollte eben auch sagen, dass so scheue Tiere oft nur eine kleine Chance brauchen, um ein besseres Leben führen zu können.
Man beachte, ich rede nicht davon, wilde Katzen an Pflegestellen zu vermitteln um sie dort in einen Raum einzusperren und "zwangszuzähmen". Keine Ahnung wo der Gedanke herkam, aber darum ging es nie.
Ist Verhalten erblich?
Ja, definitiv, ein Blick auf die verschiedenen Katzenrassen genügt da jedem Laien.
Aber was man gerne übersieht:
Es hat nicht nur "ein paar Generationen" gedauert um eine Katzenrasse in eine bestimmte Richtung zu bringen, Plus, da wurde gezielt selektiert.
"Angst vor Menschen" ist normalerweise nur eine erlernte Verhaltensweise, die bei wilden Kolonien im Instinkt verwurzelt ist, größere Geschöpfe erstmal als potentiell gefährlich anzusehen.
Egal wie verwildert eine Katzenpopulation ist, Kitten werden etwa Tierschutzaktionen normalerweise nicht wieder ausgewildert, sondern ohne großen Aufwand gezähmt und dann vermittelt. Ist bei denen halt einfacher als bei erwachsenen, wäre aber unmöglich, wenn die "Wildheit" angeboren wäre.
Was aber potentiell angeboren ist, sind Charakterzüge, die einem tatsächlich einen Vorteil in der Wildnis geben (-> natürliche Selektion), aber die Gewöhnung an Menschen erschweren. Etwa hohes Aktivitätslevel, hohe Intelligenz, große Vorsicht, ...
Ist allerdings nicht wirklich relevant, da es quasi keine Katzenkolonien geben dürfte, die so abgeschieden sind, dass sich wirkliche Merkmale ausprägen können. Das würde Jahre in völliger Isolation benötigen.
Und Fun-Fakt am Rande: Katzen die Menschen einfach nicht kennen sind am Anfang meist die panischsten, lassen sich aber deutlich leichter zähmen als die Katzen, die nur vier Meter Abstand halten, aber schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht haben. Aka, unbeschriebenes Blatt VS schlechte Erfahrungen.
Self-sustaining-Katzenpopulation?
Oder: Warum sind Katzenkolonien so ein Problem, dass man ständig raus fahren und kastrieren muss, würde es sich nicht einfach mit der Zeit selbst regeln und bei einer festen Zahl einpendeln?
Ja, würde funktionieren. Allerdings nicht über die Vermehrungsrate der Katze, sondern über die Sterblichkeitsrate.
Wenn eine Kolonie Nahrung für 10 Tiere hergibt und man weiß, dass eine Katze im Schnitt 2,5 Jungtiere pro Wurf hat, kommt man auf eine einfache Rechnung:
10 Tiere können in Gebiet X genug Nahrung finden. Jedes Jahr werden, sagen wir, 15 Kitten geboren. Zu- und Abwanderungen gleichen sich aus, heißt: Jedes Jahr sterben also in der Kolonie 15 Katzen.
Hauptsächlich Kitten. Von den meisten davon wird man nie etwas sehen.
Wenn man kein Problem damit hat, dass jährlich etwa 150% der lebenden Populationsgröße auf grausamste Weise zugrunde geht, klar, dann kann man sagen wir müssen nichts tun.
PS: Die Studie ist wirklich gut und ziemlich aufschlussreich was vor allem die Gruppenbildungen und Überschneidungen angeht, ist schade dass sie nicht länger durchgeführt werden konnte. Mir ist auch keine aktuellere Studie in die Richtung bekannt.